Bin ich dankbar, wie mein Opa es mir prophezeite? Jein. Ich bin dankbar dafür, dass er sich meiner angenommen hat, ja. Ich bin dankbar, dass mir ein nicht kindgemäßer Overload an Wissen buchstäblich eingetrichtert wurde, es hat manches in der Folge leichter gemacht, aber nicht so, wie er intendierte, fürchte ich. Man kommt besser durch das ebenfalls nicht-kindgerechte Schulsystem, wenn man auf jeden Scheiß eine Antwort hat und „schwierige“ Wörter verwendet. Es verschafft einem keinen Respekt, aber die Lehrer werden davon in gewisser Weise eingeschüchtert, und lassen einen eher in Ruhe, meine Erfahrung. Was das JA/NEIN Buch angeht, um das es im vorherigen Post ging, so bin ich nicht sicher, was das Buch bewirkt hat, und was einfach meine Persönlichkeit ist. Ich weiß also nicht, ob hier Dankbarkeit angezeigt ist.


Einmal habe ich in meiner Schulzeit sehr deutlich NEIN gesagt, zu einem Lehrer. Mein Klassenlehrer auf dem Gymnasium, nennen wir ihn Herr D., war der Meinung, dass irgendwas nicht mit mir stimmt, weil ich immer nur mit derselben Freundin rumhing, wir waren symbiotisch, wie Zwillinge, und wie das in den früher 80ern mal ein Ding war, haben wir uns manchmal gleich angezogen, und auch Klamotten getauscht. Wir waren unzertrennlich, und das war schön und erfüllend. Es passte. Es war klar, irgendwann würde sich das auseinanderleben. Aber die Zeit, die wir gemeinsam verbrachten, war Gold. Ich war und bin Einzelgängerin, ich kann nicht ständig „mit den Mädels“ in Horden rumziehen. Ich bin in der Lage, mich auf zwei oder drei Personen, die ich sehr gut kenne, einzulassen. (Und außerdem gibt es flüchtigere Beziehungen, Bekanntschaften, lockere Freundschaften, klar). Dieser Mann hat das gewissermaßen pathologisiert, oder zumindest hochgradig problematisiert. Wir waren im Schullandheim, wie jedes Jahr. Ich habe es geliebt. Es wird einen eigenen Text geben müssen zu Niedersgegen in der Eifel, es war existentiell für mich, mein Coming of Age fand zu 80% dort statt. Und diese Heilige Woche hielt Herr D. für den richtigen Zeitpunkt, mich beiseitezunehmen, um "mit mir zu reden“. Ich musste dann mit ihm "spazieren gehen“ (das muss alles in Anführungszeichen, es ist so falsch!!), und er hat mit mir einen Psychotalk begonnen. Es war grauenhaft, nervig, entmutigend, ja niederschmetternd. Ich habe dann rausgefunden, dass er das mit wenigen anderen auch machte, eine Mitschülerin sah mich mit ihm, und fragte mich: „Will der D. mit dir auch immer reden?“ Ihre Eltern ließen sich scheiden, Herr D. meinte, dazu etwas beitragen zu dürfen. Sie war anderer Meinung und schwer genervt. Wie peinlich ist es bitte auch, einzelne Leute aus der Gruppe zu nehmen, und die anderen sehen Dich, wie Du mit dem Klassenlehrer in den Wald läufst? Der Austausch mit der Mitschülerin half mir. Wir redeten mit zwei, drei anderen Mitschülern, die uns bestärkten, dass Herr D. ein Problem hat, und nicht wir, zumindest nicht so, wie er sich anmaßte, zu diagnostizieren. Offensichtlich war ich nicht ganz so isoliert, wie Herr D. mir das einreden wollte, ich wurde gestärkt von Klassenkameradinnen. Ich hatte so einen starken inneren Widerstand, und tatsächlich habe ich beim dritten Mal, als er wieder „reden“ wollte, einfach NEIN gesagt. Er war perplex, es verschlug ihm kurz die Sprache. Als er wieder zu sich kam, fragte er: „Wie, nein? Du willst nicht mit mir reden?“ Mir war schlecht vor Aufregung, es war immer noch der Form nach eine Respektsperson, ein Erwachsener! Der, der die Macht hat! Der meine Klassenarbeiten korrigiert! Ich wiederholte, diesmal im ganzen Satz, dass ich diese Gespräche nicht mehr wolle. Er war sichtlich geschockt und ist dann abgezogen. Meine Mitschülerin hat das auch so gemacht. Ich kann mich nicht genau erinnern, was ich damals für Gedanken hatte, ob ich mich bewusst an das Buch „Sag nicht Ja, wenn Du nein sagen willst“, dass ich etwa 5 Jahre vorher auf Ansage meines Opas gelesen hatte, erinnerte. Aber irgendwie war da etwas, dieser Autonomie-Impuls, dieses: Verdammte Scheisse, Alter, NEIN! Lass mich in Ruhe mit Deinem Drecks Psycho-Talk! Es geht Dich nichts an, mit wem ich meine Freizeit verbringe! Ich erinnere mich vage, dass der Titel des Buches, dieses Mantra, eine gewisse Rolle gespielt hat. Auch die Persönlichkeit meines Opas war im Hintergrund. Er war sehr unkonventionell, und sehr direkt. Begebenheiten, die ich an seiner Seite erlebt habe, als er mit anderen Menschen interagierte, haben mich geprägt. Das war situativ sehr anstrengend, peinlich (Eltern/Großeltern SIND peinlich, normal, ist ok), too much, aber irgendetwas habe ich mitgenommen, dass mir Kraft gibt, wenn’s mir richtig reicht. Ich bin extrem stolz auf das klare Nein zu Herrn D. Ich sehe rückblickend, wie richtig es war, wie falsch er lag, denn in dieser akuten Krisensituation hatte ich Rückhalt von anderen aus meiner Gruppe, ich war nicht so isoliert wie er mir einreden wollte, ich war in der Lage, zu kommunizieren und mich auszutauschen außerhalb meiner Symbiose mit der besten Freundin (die mich natürlich auch unterstützte!).


Meine geschätzte Leserschaft mag jetzt einwenden: Moment mal, ein Einzelgespräch mit dem Lehrer? Was ist daran so schlimm? Wo ist hier bitte die Grenzüberschreitung? Er hat es doch bestimmt gut gemeint! Richtig, ein pädagogisches Gespräch kann eine angemessene Maßnahme sein mit wertvoller Intention. Ich hatte zwei Gespräche absolviert. In denen wurde mir mitgeteilt, dass ich falsch bin, und es seine Mission ist, das zu ändern. Er sieht, was ich nicht sehe. Das ist es, was bei mir ankam. Eine Anmaßung auf der Basis von Hybris, meine Persönlichkeit ignorierend. Neudeutsch Gaslighting. Wenn er wirklich dachte, mit mir stimmt etwas nicht, hätte er mit meinen Erziehungsberechtigten reden müssen, oder sie einbeziehen. Scheiße, ich fühlte mich seinem Urteil ausgeliefert! Vor allem aber, kommt mir jetzt, habe ich ein Stück weit mich selbst in Frage gestellt, dadurch, dass er mich, wie ich in der Klasse dastand, in Frage stellte. In unserer Familie waren ein paar Sachen „anders“, und ich wandte sehr viel Energie auf, Schrägheiten meiner Lebenssituation zu kompensieren. Zum Beispiel die Tatsache, dass ich seit Jahren täglich drei Stunden Homeschooling mit Opa hatte (siehe SAG NEIN), und dass ich manchmal meine Sachen selbst waschen musste, aber die Waschmaschine war kaputt, und Oma gings nicht so gut, sie hatte Rücken, oder Nervenziehen im Kopf. Dass wir im Bad einen Ofen hatten, der mit Holzresten aus der Sargfabrik befeuert wurde, und das heiße Wasser reichte dann für eine halbe Badewanne. Dass meine Oma vielleicht ein bisschen zu viel Zeug aufbewahrte, denn wenn man einen Krieg erlebt hat, dann denkt man, auch kaputte Sachen kann man noch gebrauchen, und intakte Sachen benutzt man nicht, sondern verwahrt sie "für gut". Dann kommt Herr D. und sagt gefühlt: Hey, Du kleiner Freak, mit Dir stimmt was nicht! Du und Deine Freundin, Ihr seid krass neben der Spur. - Hey, Herr D.! Ja, ich bin ein Freak, aber das geht Dich nix an! Ich komm klar und wenn Du wirklich denkst, ich bin ein Freak, ruf meinen Opa an!

Er kann froh sein übrigens, dass er sich nicht an meinen Opa gewendet hat. Als ich etwa acht Jahre alt war, bin ich mit dem Opa in den Tante Emma Supermarkt „Lebensmittel Winkels“ auf der anderen Straßenseite gegangen, wir haben ein paar Pfandflaschen weggebracht, unter anderem. Dazu musste man in einer Ecke hinter der Kasse, wo meterhoch die Wasser- und Limokästen gestapelt waren, an einer Tür zum Hinterzimmer seine Flaschentasche abgeben. Die Mitarbeiterin nahm die Tasche entgegen, sortierte die Flaschen weg, gab sie zurück mit einem Zettelchen, auf dem der Pfandbetrag stand. Ein festes Ritual, einfach. Wir wussten wie das geht. Nur: meinem Opa passte an dem Tag irgendwas nicht. Err sagte etwas zur Verkäuferin. Sie antwortete mit „Sie müssen mir Ihre Tasche geben!“, so in der Art. Richtig, so lief's dort. Aber: "SIE MÜSSEN!" Mein Opa ging durch die Decke. Er fühlte sich angegriffen, beleidigt, was weiß ich. Aus meiner Perspektive hatte die Frau einen normalen Satz gesagt, ich kannte sie, ich habe mir in dem Laden oft was Süßes oder Chips gekauft. Sie war nie besonders nett, aber auch nicht böse oder so. Mein Opa sagte mit übertrieben lauter Stimme: „SIE MÜSSEN??? Ich muss gar nichts, nur sterben muss ich!“. Der schwarz-weiss karierte Kachelboden des Ladens tat sich auf und ich versank, so wie Homer Simpson in der Gartenhecke.


Ja, mein Opa Jan war ein sehr spezieller Mensch, der sich meiner angenommen hat, und dafür danke ich ihm. Und meiner liebevollen Oma Hildegard danke ich auch, dass sie ihn zeitlebens ertragen hat und in Schach gehalten, und mich schon als Baby mitversorgt hat, mit mir in den Urlaub gefahren ist, den Haushalt geführt hat und Alltagsrituale gepflegt, und vor allem immer da war. Ich bin glücklich, wenn ich daran denke, wie wir von der Lübecker Straße zum Sudermannplatz rübergelaufen sind, ich war 3,4,5 Jahre, und wir gingen einkaufen bei Osti, und ich durfte immer gucken an dem Ständer mit den Billigspielsachen, und oft hab ich was kleines gekriegt. Und auf dem Heimweg trafen wir dann regelmässig die eine oder andere Bekannte von Oma, und sie unterhielten sich seehr lange, und ich war einfach nur da. Es war eine gute Art des Langweilens, die Zeit stand still, totale Gegenwart, so Eckhart-Tolle-mässig. Das reine Glück.

Ich bin dankbar, dass ich in Omas und Opas Schrebergarten aufwachsen durfte, wo Opa mit damals modisch knapper Shorts und freiem Oberkörper, seine riesige Magen-OP-Narbe präsentierend gärtnerte, und Oma mit so

Frottéebadelatschen, aus denen die Füße vorne durchrutschten, sodass die Zehen den Erdboden berührten, und Polyesterkleid ohne Arme („mir isset wärm“) Äädäppel (Kartoffeln), Bunne (Bohnen), Sprütchen (Rosenkohl), Prumme (Pflaumen), Johannisträubchen (-beeren), Prei (Porrée), Schloht (Salat) und vieles andere erntete und daraus täglich leckeres Oma-Mittagessen kochte, sowie Kompotte und Marmeladen. Wenn ich an den Garten mit Opas Rosenbeet, Obst(kletter)bäumen, Wasserpumpe, Zinkwanne, Komposthaufen und Geräteschuppen denke, an das Beet mit Dahlien im September, die so hoch wuchsen, dass es für mich wie ein Wald war, bin ich richtig glücklich und tief dankbar, und mir sind die Fremdwörter, Hauptstädte und Primzahlen total egal. Wenn ich Radfahren gehe, und ich rieche Wiese, Erde, Blüten, und meine Haut, wenn die Sonne draufscheint, und ich höre die Insekten und die Vögel, kommt so ein unfassbar gutes Gefühl auf, und ich sitze wieder beim Opa vorne im Lenkersitz und wir radeln zum Blücherpark, in den "Gatten“ (Garten). Da ist Dankbarkeit, ganz tief drinnen.


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