Als ich 9 oder 10 Jahre alt war, musste ich ein Buch mit dem Titel SAG NICHT JA, WENN DU NEIN SAGEN WILLST lesen. Ja, ich musste. Nicht, weil mich das so brennend interessiert hätte, einen psychologischen Ratgeber für Erwachsene zu lesen, sondern weil es mir befohlen wurde. Mein Opa befahl und verbot mir Dinge. Nein sagen zur Lektüre des Buches? War nicht vorgesehen. Er war recht streng und unnachgiebig, wenn er mir einmal eine Sache aufgegeben hatte. Was ich tun musste, hatte mit „Bildung“ zu tun, mit seiner ganz speziellen Idee von dieser, denn er nahm mir gegenüber gewissermaßen eine Vaterrolle ein, und er war der Meinung, dass er einen besonderen Erziehungsauftrag in Bezug auf mich hatte: „Das Kind muss was lernen, Abitur machen, studieren!“. Was dem aus seiner Perspektive entgegenlief, war mir verboten, zum Beispiel: Comics lesen, mit Puppen spielen, kurze, enge Jeansröcke tragen, und später dann: einen Freund haben. 

Wenn mein Opa einen Befehl zur Bildung erteilt hatte, war er meinerseits ohne Widerspruch auszuführen. Man könnte auch sagen: Er gab klare Strukturen und Werte vor, wie das Menschen, die einen erziehen, so machen. Ich hatte Dinge zu lernen, die seiner Ansicht nach in der Schule vernachlässigt wurden. Des Weiteren war es eine bestimmte Art von Allgemeinbildung, die er mir vermitteln wollte. Er war besessen von der Idee, dass man bessere Chancen habe im Leben mit einer breiten Allgemeinbildung. Das stimmt vermutlich auch. Es hatte aber auch noch einen anderen Aspekt, der hatte etwas mit Scham zu tun. Zum Beispiel musste ich Fremdwörter lernen. Als es damit losging, ich war im Grundschulalter, erklärte er mir einleitend, es gäbe nichts Peinlicheres als Menschen, die ein Fremdwort verwenden, sich also gewählt ausdrücken wollen, und es dann falsch einsetzen, weil sie eigentlich nicht wissen, was das Wort bedeutet. Ein konkretes Beispiel zum Nicht-Allgemeinwissen, jenseits von Fremdwörtern, habe ich mir gemerkt: „Tanja, es gibt Leute in Köln, die wissen nicht, wofür KVB steht. Sie fahren jeden Tag mit der KVB und wissen nicht, was das eigentlich heißt. Das soll dir nicht passieren. Es steht für: Kölner Verkehrs-Betriebe.“ Es war also peinlich, etwas nicht zu wissen. Peinlichkeit war fundamental schlecht und um jeden Preis zu vermeiden. Wie mir heute klar wird, im Grunde beim Schreiben dieses Textes, habe ich diese – vermeintliche! Fiktive! Konstruierte! – Verbindung von Unwissenheit und Scham sehr verinnerlicht. Sobald ich ein Wort höre, das ich nicht kenne, werde ich nervös und ich schlage es nach. Akronyme, die immer häufiger werden, auch durch den Einfluss aus dem englischsprachigen Raum, kann ich nicht verwenden, ohne zu wissen, wofür die Buchstaben stehen, auch wenn ich die grundlegende Bedeutung des Begriffs kenne. Mein Kopf ist randvoll unter anderem mit nutzlosem Lexikonwissen, Fun Facts, und Definitionen. Ich bin besessen von Etymologie, und ich gehöre zu den Personen, die das Lernen von Altgriechisch und Latein unter gewissen Umständen für sinnvoll halten (von wegen Fremdwörter...), und natürlich verfängt sich in meinem Wissenstaubsauger auch extrem viel Nützliches. Aber ernsthaft, man fährt nicht besser mit der KVB, wenn man weiß, wofür diese Buchstaben stehen. Auch die MVG wird kein bisschen pünktlicher oder zuverlässiger, wenn man sie Münchner Verkehrsgesellschaft nennt. Es ist Wurscht! Ich frage mich, ob ich mit der Staubsaugerfunktion geboren wurde oder ob sie antrainiert ist, oder beides. Vermutlich letzteres.


Besonders wichtig war meinem Opa, dass eine FRAU, die ich ja mal sein würde, nicht peinlich „dumm“ ist. Als Frau etwas nicht zu wissen war möglicherweise noch mehr mit Scham verbunden, als ein nicht wissender Mann zu sein. Peinlich war auch, nicht jede Hauptstadt der Europäischen Länder aus der Pistole geschossen aufsagen zu können, wenn man neun ist, und die Einwohnerzahlen der Länder musste man unbedingt kennen, und die Namen der längsten Flüsse der Welt: Damit war zusätzlich zu FREMDWÖRTER und ALLGEMEINWISSEN das Fach OPAS ERDKUNDE eingeführt (in der Schule lernte man das tatsächlich nicht, sondern so Sachen wie Erosion, und den Unterschied zwischen Taiga und Tundra, oder wie man eine Karte liest, in der es um Bodenschätze geht). Im Eingangsbereich der Wohnung meiner Großeltern, in der ich von 7 bis 16 mit ihnen wohnte, wurde eine sehr große farbige Europakarte aufgehängt, vor der wir dann oft standen, wenn „Unterrichtszeit“ war. Ich war fortan unschlagbar in Stadt-Land-Fluss, und es gab immer Diskussionen mit den Freundinnen, ob es wirklich einen Fluss gibt, der Guadalquivir heißt, oder ob ich den erfunden habe. Wichtig war Opa auch, dass ich, wenn ich in Urlaub fuhr (mit meiner Mutter oder meiner Oma, ich war nicht einmal mit meinem Opa im Urlaub, fällt mir gerade auf), dann reichte es nicht, zu sagen: Wir fliegen nach Mallorca, sondern ihm war wichtig, dass ich wusste, wo das liegt, dass ich es auf der Karte finde. An sich keine schlechte Idee, einem Kind so nebenbei seine Lebenswelt zu erklären, Verbindungen herzustellen, den Horizont buchstäblich zu erweitern. Die Art und Weise allerdings, wie mein Opa das ganze framte, oft irgendwie schimpfend, nebenbei meine Oma diffamierend, die angeblich überhaupt keine Ahnung von irgendwas hatte, war nicht ganz angemessen. Sie nahm mich drei Wochen mit in den Urlaub, ganz so blöd kann sie nicht gewesen sein. Wissen, so sein Credo, das war Distinktion, bewahrte vor Peinlichkeit, so eine Art Schutzpanzer, der einen unangreifbar macht. Wer ihn nicht hat, ist eine Art Kretin, „Kreti und Pleti“ (sein Ausdruck) haben keine Ahnung von nix, „so wirst du nicht, Tanja!“ Dafür wollte er sorgen, das war die Mission. „Du wirst mir nochmal dankbar sein!“. Wenn ich den Satz gehört habe, habe ich innerlich oder hinter seinem Rücken mit den Augen gerollt, und den Scheiß gelernt. Ja, ich muss unbedingt Kraftausdrücke verwenden in diesem Text, es hilft mir beim Kanalisieren, das ist eine der Intentionen beim Schreiben dieses Blogs. Ich musste jeden Tag, auch sonntags, ein Pensum Fremdwörter, Erdkunde und oft auch Mathe, und später Niederländisch (seine Muttersprache) lernen, und das wurde täglich abgefragt. Ich wollte meine Ruhe, aber das Auswendiglernen fiel mir leicht, also hab ich‘s einfach gemacht. Ich habe ein fotografisches Gedächtnis für Wörter und ein synästhetisches System in meinem Kopf, das es mir ermöglicht, Schriftbilder, Laute und andere Tanja-spezifische Sinneswahrnehmungen wie Stimmungen und Schwingungen so zu verbinden, dass ich das Gelernte abrufen kann. Mein Opa war immer wieder erstaunt, wie ich mir die schwierigsten Fremdwörter merken konnte. Easy, ich hatte ein Bild im Kopf! Das kann ich erst heute so sagen, nachdem ich mich näher mit Synästhesie beschäftigt habe. Ich habe mich ihm dadurch irgendwie auch überlegen gefühlt, oder besser, ich habe sein System unterlaufen. Ihn ausgetrickst. Ich habe nach meinem Verständnis nicht im engeren Sinne „gelernt“, sondern einfach den Stoff abfotografiert, teilweise irgendwie kombiniert mit dem Klang, oder auch mit dem visuellen Umfeld, der Stimmung zum Zeitpunkt des Lernens, auch Gerüche konnten eine Rolle spielen. Eine Art sonographisches inneres System entfaltete sich und half mir. Es gab Inhalte, da war das nicht vollständig möglich, Mathe zum Beispiel, denn bei Zahlen klappt das nicht ganz so gut. Mir war einfach nur wichtig, dass er nicht schimpft und ich endlich frei hatte. Ich weiss, dass er es nicht böse meinte. Er war schon streng, aber nicht bös'. Das wusste ich, weil ich es fühlte.


Zurück zum Anfang. Irgendwann stand also plötzlich das Buch SAG NICHT JA, WENN DU NEIN SAGEN WILLST auf dem Opa-Unterrichtsplan. Ich fand's banal, hatte ich doch im Grunde ein angeborenes Gerechtigkeits- und Wahrheitsverständnis, wie wohl die meisten Kinder. Es war logisch, Erwachsene sagen Ja oder Nein, wenn sie es meinen, ein klarer Vorteil des Erwachsenseins! Wenn meinem Opa etwas nicht passte, sagte er sehr klar, laut und deutlich NEIN! Und mir war auch völlig klar, dass für Kinder andere Regeln galten, situativ. Aber dies war ein Buch für ERWACHSENE. Jeden Tag stand ein Kapitel zur Lektüre an. Es war nicht schwer zu lesen, es gab langweilige Fallbeispiele aus der Erwachsenenwelt, nicht übertragbar auf meine Kinderwelt. Klarer, aber unklassischer Fall von „Adultisierung“, mir damit zu kommen. Ich habe das Buch vor ein paar Jahren in einer Kiste im Keller wiedergefunden: Es enthielt unter jedem Kapitel einen handschriftlichen Vermerk von meinem Opa, wann ich es gelesen hatte. Mir wurde schlagartig klar, wie absurd und leicht gestört es war, eine 9- oder 10-Jährige zu nötigen, ein Buch zu lesen, mit welchem sie lernen soll, sich nicht zu etwas nötigen zu lassen, um eine autonome Persönlichkeit zu entwickeln. Kinder lernen nicht durch Erwachsenenratgeber, sondern durch persönliches ERLEBEN. Darin sollte man sie begleiten. Ich habe das Buch weggeworfen, mit einer rituellen Geste des Loslassens, Beendens, im Sinne von: „Weg damit! Ende, Nein! Ich möchte nicht!“. Es kann gut sein, dass ich irgendetwas in dieser Art auch ausgesprochen habe, als ich an der Mülltonne stand, kombiniert mit lauten Kraftausdrücken und Flüchen.


Das Thema Autonomie beschäftigt mich nach wie vor. Ja, ich kann ganz gut NEIN sagen, wenn ich ganz klar NEIN fühle. Aber mitunter merke ich zu spät, dass ich in einer Situation bin, in der ich zwar bewußt handle und mit Personen interagiere, mich im Verlauf aber ausgeliefert fühle, unzufrieden, „gelebt“, nicht in meiner Kraft. Ich spüre ein immer stärker werdendes Unwohlsein. Wenn ich das reflektiere, komme ich oft zu der Erkenntnis, dass ich in die Interaktion gegangen bin, möglicherweise schon mit Zweifeln, ob ich das will, mit einem leisen „nein, ich möchte nicht“ im Hinterkopf, oder im Bauch, ich aber nicht darauf gehört habe. Ich habe also JA gesagt, als ich NEIN sagen wollte, habe aber meiner inneren Stimme nicht zugehört. Irgendwelche sozialen Filter, Verpflichtungsgefühle, Scham, Komplexe, alte Gewohnheiten oder sowas wie „Passt scho‘!“ haben mich in diese Lage gebracht, in der ich mich frage, wie ich da elegant wieder rauskomme. Klar, man kann immer sagen: "Leute, sorry, ich bin raus". Aber andere soziale Filter halten einen davon dann auch wiederum ab.

Übrigens ist es manchmal geboten, zu sich selbst NEIN zu sagen, wenn man jemand anderes in seiner Autonomie beschränken will. „Nein, tu das nicht, halt den Mund, nicht deine Baustelle!“ Es ist nicht immer leicht, sich dessen bewusst zu sein, meistens hat man sogenannte gute Absichten. Es ist jedoch nicht gut, in fremde symbolische Räume zu latschen mit einem Helfersyndrom, unsolicited advice oder mit einem übersteigerten Bildungsauftrag. Es ist schwer, aber wichtig, rechtzeitig zu sich selbst zu sagen: Nein, ich mische mich da nicht ein. Genauso schwer wie: Nein, ich will nicht, dass du Dich in mein Zeug einmischst. Ja, ich verteidige meine Grenze und respektiere Deine. Die schwierigste Aufgabe der Welt.

Übrigens fällt mir auf, dass Manipulation, Nudging und Gaslighting (was dasselbe ist wie Manipulation), euphemistische Diktionen und andere uneigentliche Sprechweisen es immer schwerer machen, im Alltag klar JA oder NEIN zu sagen. Ich sehe es glasklar in der Werbung und in der Politik, und es sickert ins Private. Es ist unheimlich.


Dieser Text wird fortgesetzt unter dem Titel: Danke, Opa!


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