Ich habe diesen Text sehr lange vor mir hergeschoben. Und davon handelt er auch: vom Prokrastinieren*. Ich war schon immer eher Team auf den letzten Drücker. Das war im Ergebnis eigentlich nie ein Nachteil. Die Conclusio meiner Magisterarbeit habe ich in den letzten 48 Stunden vor der Abgabe geschrieben. Der Teil, auf Adrenalin und ohne Schlaf geschrieben, gefiel mir am Ende am besten. Okay, das ist jetzt echt lange her, und es war, wenn ich ehrlich bin, die Hölle, ein absoluter Alptraum, und ich kann mir im Nachhinein nicht erklären, wie es dazu kommen konnte. Ich wusste: Ich MUSS am Stichtag abgeben, wie oft wurde das seitens des Prüfungsamts mitgeteilt, es gibt keinen Aufschub! Ich hab’s also geschafft. Hatte ja auch sechs (6!!!!) Monate Zeit. Ein paar Wochen später traf ich eine Kommilitonin, mit der ich öfter gelernt hatte, und die dasselbe Abgabedatum hatte. Ich frage sie, wie es für sie lief, ich hatte mitbekommen, dass sie nach hinten raus auch in Zeitnot war. Sie sagte trocken: Ich habe die Frist verlängert, war gar kein Problem. Ein Tanja-Klassiker, gar nicht erst auf die Idee kommen, die Deadline zu schieben.

Ich habe mir irgendwann klar gemacht, dass ich einfach gut unter Druck arbeiten kann, und beschlossen, vollumfänglich zu akzeptieren, dass ich so funktioniere, und mich zukünftig gelobt für mein produktives Stressmanagement. Wenn sich eine Deadline näherte, habe ich einfach gewartet, bis das Adrenalin einschießt, und dann Messebewerbungen, Pressetexte oder Umsatzsteuervoranmeldungs-Vorbereitungen rausgehauen, meine Galerie im Abendkleid geputzt eine Stunde vor der Eröffnung, oder einen Großtransport in Rekordzeit gepackt. Das letzte Bild war fertig, als die Spediteure ihren Kaffee getrunken hatten, und die Labels habe ich im Laderaum geklebt, während die Packer ihr wirklich bewundernswertes Kunstwerke-Tetris spielten und die Gurte festzurrten. Ich hätte die Kunst niemals ohne Labels rausgelassen, das gehörte zum Deal, den ich mit mir hatte, spät dran sein ist ok, schlampen geht gar nicht.


Allerdings: Prioritäten muss man schon setzen, oder besser gesagt, Abstriche machen ist essenziell. Denn zum Verschieben gehört meiner Meinung nach das Zu-Viel-Wollen dazu. Es stehen zu viele Sachen auf der Liste, und es werden mehr. Dazu kommt: Das, was man so als Vorstellung hat, wie eine einzelne Aufgabe erledigt werden soll, ist manchmal völlig unrealistisch und überzogen. Manche Aufgaben, die man sich stellt (genau, man stellt sie sich selbst! Das bedeutet auch: Man selbst kann sie auch wieder streichen, oder gar nicht erst aufschreiben!!), bestehen in Wirklichkeit aus vielen Einzelpunkten. „Abstellraum aufräumen“ kann bedeuten, dass man den Abstellraum aufräumen will. Vermutlich wird man bei der Gelegenheit ein paar überflüssig gewordene Dinge entsorgen. Es kann aber auch bedeuten:

1. Aufbewahrungsbehälter besorgen (auch klassisch: vor dem Anfangen immer erstmal was kaufen müssen)

2. alle Sachen sortieren und in sich hineinspüren, ob sie jeweils Glück verströmen

3. Schilder für Behälter ausdrucken (Drucker ist garantiert leer: Druckerpatronen kaufen)

4. Freunde fragen, was sie gebrauchen können von dem Schmarrn der weg soll

5. Die (erwachsenen) Söhne fragen, ob sie die Wachsstifte vom Kindergarten noch brauchen

4. Sachen auf eBay verkaufen, sie dafür aussagekräftig fotografieren

5. Sachen zum Wertstoffhof bringen (Auto…?)

6. Die Kammer und den Schrank darin neu streichen. (Equipment…?)

7. Haken anbringen fürs Bügelbrett (Bohrmaschine…?)

Die Liste kann endlos verlängert werden. Ich habe im März unsere Abstellkammer und das Bücherregal im Wohnzimmer aufgeräumt. Ich war eine Woche allein, und ich schwöre, ich habe im Grunde die ganze Woche gebraucht! Es ist mir unerklärlich, wie in einem 8 qm Raum und einer Regalwand Dinge aufbewahrt sein konnten, für deren alternative Distribution ich 8x Momox-Bücherverkauf, 4 Fahrten (Fahrrad!) zu Oxfam Charity, sowie 6 Kartons an der „Zu verschenken“-Ecke in meinem Viertel machen musste, zusätzlich zu den gefühlten 30 Gängen zu diversen Mülltonnen, und 10 Keller-Abladungen. Weder Regal noch Kammer wirken jetzt leer. Aber die Katharsis war sehr real. Irgendwann war auch klar: Ich kann jetzt noch zwei Wochen rummachen, Dinge auf Kleinanzeigen verkaufen, das kaputte Regal in der Kammer durch ein neues ersetzten, damit ich mehr Zeugs unterbringe, aber die schiere Masse an Dingen, und der Zeitraum, aus dem sie stammten (20 Jahre!!) haben mir, der Minimalistin (haha) mehr als deutlich gemacht: Nix. Weg. Raus. Over. Allein mein Umweltbewusstsein hat mich davon abgehalten, wirklich alles in die Tonne zu kloppen. 

Prioritäten setzen heißt also oft: Mach das, was zu tun ist, mach das so gut wie möglich, aber reiß dir nicht beide Beine aus. Fünf grade sein lassen. Passt!


Viele Punkte auf der To-Do-Liste landen eh nur da drauf, weil man sich selbst das Gefühl geben will, man ist busy, und man hat echt wichtige Dinge zu tun, man hat einen Plan, und der ist fixiert. Und dann stehen da wochenlang Sachen im Kalender auf den diversen Listen, und diese werden langsam zu Listen von Dingen, die man niemals tun wird. Die gute Nachricht ist: Man kann nicht nur Erledigtes abhaken, man kann auch Unerledigtes streichen. Wenn man das Verschieben in den Griff bekommen möchte, sollte man also erstmal die Listen radikal zusammenstreichen, und bei den Punkten, die bleiben, den Umfang der Tätigkeit überdenken, ohne die eigenen Standards zu senken. Die wahren Standards, nicht die Fiktiven. Da geht’s dann allerspätestens ans Eingemachte, denn viele Sachen stehen auf den Listen, weil unser Ego sie draufgeschrieben hat. Und wir haben uns nicht getraut zu intervenieren. Ich musste zwei Sachen auf einer Liste streichen, mein Ego ist immer noch sauer: 

„Im Tanzprojekt 10er Karte kaufen" (gemeint ist eigentlich: wieder richtig ins Ballett einsteigen, wie mit 25) und „mein Niederländisch und Französisch wieder fließend machen“. Man könnte das auch übersetzen mit: Die Zeit 25 Jahre zurückdrehen. Da das bekanntermassen nicht möglich ist: Streichen!

Es gibt allerdings einen Kompromiss: Ich gebe den Töchtern einer Freundin Ballettunterricht, was mein Leben wirklich bereichert und mich fordert, aber meine Bänder nicht noch mehr zerstört. Und ich lese Simenon, dessen Bücher ich gewissermaßen auswendig kenne, im Original und folge auf Instagram einem Account, das Idiome des Niederländischen erklärt.


Und jetzt komme ich zum ursprünglichen Impuls, dieses Thema zu bearbeiten, über das bestimmt schon zahlreiche kluge oder unbrauchbare Bücher geschrieben wurden. Ich habe gemerkt, dass es eine Diskrepanz gibt zwischen meinem Umgang mit Dingen, die ich erledigen möchte und erledigen sollte, und Aktivitäten, die ich nicht wirklich tun will, ja nicht einmal tun muss, aber für die ich dennoch in verschwenderischer Weise Zeit aufbringe. Ihr ahnt es: Statt einen Text zu schreiben, der mir am Herzen liegt, daddel ich in meinem Handy rum. Oder ich lese im Netz irgendwas, auf das ich gekommen bin, als ich einen Begriff gegoogelt habe, der wichtig für meinen Text ist, den ich dann wieder nicht anfange, weil die Internetsucht (oder mein Gründlichkeit beim recherchieren?) mich auf Abwege geführt hat. In kürzester Zeit bringen die Apps und die Geräte und die jeweils inhärente Dynamik und die Suchtzustände in mir mich dazu, nicht das zu tun, was ich tun will. Manchmal will ich kurz nach dem Wetter für den Nachmittag gucken, weil ich dann radln will, und eine Dreiviertelstunde später habe ich NICHT die Wetter-App geöffnet, sondern einen längeren Chat auf WhatsApp geführt, auf Instagram Kommentare geliked und drei "dircekte Nachrichten" ebendort beantwortet von Leuten, die ich gar nicht kenne, durch mein Newsfeed gescrollt und mich richtig darüber aufgeregt, dass dort die Ratio zwischen Posts, die ich abonniert habe, und allem, was Instagram mir an Werbung und "Vorschlägen" einspielt, mittlerweile bei 1 zu 4 ist. Ich nehme mir deshalb vor, einen Text zu schreiben über Instagram und die Tücken und warum es sowas von vorbei ist, und mache mir dazu Notizen. Dann fällt mir ein, dass ich ja erstmal einen Text übers ewige Aufschieben schreiben wollte, und einen über meine Uroma, und noch einen über den Garten, in dem ich aufgewachsen bin, und dass es dafür eine Liste gibt, und dass ich eigentlich das Wetter checken wollte, um rauszufinden, welche Radkleidung ich gleich anziehen sollte. Inzwischen regnet es, Ich hätte easy meine 75 Minuten Radlrunde incl Morning-Swim geschafft, wenn ich einfach losgefahren wäre.


Was tun? Erstmal habe ich meine Apps auf's Minimum reduziert. Nützt kaum etwas, die Safari App kann man ja nicht löschen, und am Ende ist da alles drin. Der Recherche-Motor, bezeichnenderweise ja auch Suchmaschine genannt. Für den digitalen Tunnelblick reicht Safari vollkommen aus. Oder Fotos (übrigens, Punkt auf der Liste: „Fotos im Handy durchgehen und löschen“). Oder Apple Music.

Ich habe große Willenskraft, und wenn ich etwas wirklich will, dann schaffe ich das oft. Aber der Wille reicht hier nicht ganz. Ich schäme mich ein bisschen vor mir selber, und meiner Leserschaft, das zu sagen, echt. Aber ich weiß auch, dass etwas Peinliches einzugestehen manchmal heilsam ist, Hose runterlassen.


Was bei mir wirklich funktioniert, ist das, was ich FRONTAL ANGEHEN nenne (das hilft mir auch, wenn ich ängstlich bin). Es gibt diese Gedankenblitze, die wohl das schlechte Gewissen schickt: Man ist mit etwas beschäftigt, zum Beispiel trinkt man am Montagmorgen Kaffee und liest die Emails von gestern und schreibt Nachrichten und schreibt eine Liste mit zu erledigenden Sachen. Und da kommt der Gedanke: „Ich wollte doch gestern Mama anrufen, naja, mach ich später…“. Nee, nix! Jetzt.Sofort.Anrufen. Danach geht es vielleicht so weiter: Ins Bad, Zähne putzen, und du merkst, die Lampe mit dem guten Licht ist seit zwei Wochen immer noch nicht ausgewechselt, ergo siehst du aus wie 'ne 50 Jahre alte Eule, Zahnseide quillt aus dem Müll und der Spiegel ist versifft: SOFORT alle drei Sachen erledigen. Manchmal geht das aber auch so: Man macht den Schrank an einem sonnigen Samstag morgen auf, sucht diesen einen Rock….und findet den Stapel mit den Klamotten, die seit 2 Jahren auf ihre Reparatur warten, und der Stapel dahinter sollte an bestimmte Leute verschenkt werden, aber immer, wenn man die Leute gesehen hat, wurde es vergessen. Es kann gut sein, dass man beide Stapel besser einfach in die Altkleidersammlung stopft, oder vor die Tür stellt im Zu-Verschenken-Modus, oder sogar wegwirft. Versteht mich nicht falsch, mending is better than ending!! Aber irgendwann ist auch gut. Wie oft habe ich etwas (verzögert!) repariert, und es dann nie wieder angezogen. (Übrigens: Geliebte Schuhe mit Ledersohle niemals zum Schuster bringen wegen Gummisohlen. Man zieht sie nie wieder an. Es ruiniert ihr feeling!! Gleich von der Liste streichen. Schuhe tragen, bis sie auseinanderfallen, wegwerfen.)

Natürlich kommen einem manche lästigen Dinge von der To-Do-Liste in den Sinn, wenn man sie garantiert nicht ad hoc erledigen kann. Ich vermute, das ist auch das Ego, das einem sagen will, was man für eine Niete mit ineffizientem Looser-Zeitmanagement ist. Oder vielleicht entspricht es dem eigenen Naturell, Dinge erstmal liegen zu lassen. Das sind dann auch schonmal Sachen, die man ganz streichen kann. Ich habe die Theorie, dass wir gar nicht wollen, dass nichts auf der Liste steht. Die Liste ist eine Art symbolisches Gegengewicht zum sinnlosen Rumdaddeln, Abhängen, Binge-Watchen und anderen Dingen, die man tut, aber lieber lassen würde. Was hatte ein Mensch im Mittelalter wohl auf der Liste? Er könnte vermutlich gar nicht schreiben. Im 19.Jahrhundert? Keine Zeit für Listen, muss arbeiten, essen machen, Wäsche waschen, die Pferde striegeln. So, und jetzt kommt‘s: Rituale sind das wahre Gegengift zum Verschieben, jedenfalls für mich. „Text über Rituale schreiben“: ist notiert.


*Prokrastination ist auch eine pathologische Störung. In dem Sinne verwende ich das Wort nicht. Der Duden sagt: "Prokrastination: das Verschieben, Aufschieben von anstehenden Aufgaben, Tätigkeiten". Das ist hier gemeint.


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